Eine gerechtere neue Desktop-Oberfläche für Wikipedia

Das Internet war 2010 ein interessanter Ort. Viele der heutzutage größten Websites begannen gerade erst mit ihren Aktivitäten. Smartphones verbreiteten sich immer weiter. Und Wikipedia erhielt ein brandneues Aussehen.

Als Ergebnis einer zweijährigen Usability-Initiative, die von der Stanton Foundation finanziert wurde, wurde im Mai 2010 der Vector-Skin lanciert, der den endgültigen Look der Wikipedia prägte.

Dieser Look ist bis heute unverändert.

Das etwas altbackene Aussehen und Gefühl von Wikipedia hat etwas Sentimentales. Es erinnert an die frühen Tage des Internets, eine Zeit voller Idealismus und Optimismus mit Blick auf das Potenzial des Internets, die Welt zu verändern. Es ist einfach, an den Überbleibseln der Vergangenheit festzuhalten, in der Hoffnung, sie möchten auch heute noch die Geisteshaltung aus der Anfangszeit transportieren. Wenn Wikipedia mit dem Design aus dem Jahr 2010 praktisch ununterbrochen unter den zehn wichtigsten Websites weltweit geblieben ist, bedeutet das vielleicht, dass keine größere Änderung notwendig ist? Doch zwölf Jahre nach der letzten Neugestaltung muss man sich die Fragen stellen: Für wen wurde die Website designt? Und entspricht sie noch den Anforderungen heutiger Nutzer:innen?

2010 hatten ungefähr 70 Prozent der Bevölkerung in den USA und in der EU Internetzugang. Im subsaharischen Afrika und in Südasien lag die Zahl bei 6,7 bzw. 7,2 Prozent. Das Internet war dementsprechend kein besonders gerechter und inklusiver Ort. Die Usability-Initiative der Stanton Foundation mit ihren umfangreichen Usertests konzentrierte sich vor allem auf das größte Projekt: die englischsprachige Wikipedia. Auch wenn andere Stimmen aus neuen Märkten durchaus Gehör fanden, wurde mit diesem Input nicht viel gemacht, und aufgrund der geringen Zugänglichkeit des Internets zu der Zeit konnten letztlich nur besonders Privilegierte im Prozess mitbestimmen.

Auch wenn es noch viel Verbesserungsbedarf gibt, hat sich die Situation in den letzten zehn Jahren verbessert. Die aktuellen Zahlen zur Internetabdeckung zeigen eine veränderte Welt. In den USA und in der EU haben nun etwa 88 Prozent der Bevölkerung Zugang zum Internet, was auf einen geringen, aber stetigen Anstieg hinweist. Die Zahlen für das subsaharische Afrika (nun 39 Prozent), Südasien (nun 35 Prozent) und für eine Reihe weiterer aufstrebender Märkte zeigen hingegen exponentielles und anhaltendes Wachstum.

Ausgehend von unserer Wikimedia-Vision einer Welt, in der jeder einzelne Mensch frei an der Summe allen Wissens teilhaben kann, müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir Wissen freigeben und traditionelle Modelle von Macht, Privilegien und Zugang revolutionieren können. 2019 haben wir einen Prozess angestoßen, um die Desktop-Oberfläche der Wikipedia zu aktualisieren, sodass sie für alle einfacher benutzbar würde. Das Projekt ist umfangreich und manchmal überwältigend, aber von Anfang an waren drei Dinge klar:

  1. Wir verändern die Oberfläche nicht, weil wir der Meinung sind, dass wir unbedingt modernisieren sollten, oder weil es neue, komplexere technische Lösungen gibt, die wir verwenden können (auch wenn diese Technik es uns natürlich erst erlaubt, notwendige Werkzeuge zu entwickeln, die bislang unmöglich waren). Wir ändern die Oberfläche, weil sie ursprünglich nicht für alle Menschen auf der Welt entwickelt wurde, sondern für diejenigen, die bei der Initiative 2010 zu Wort gekommen sind und damals mit ihren Anliegen Gehör gefunden haben.
  1. Wir müssen diesmal anders an die Sache herangehen. Wenn wir uns auf ein konkretes Projekt konzentrieren, etwa die englischsprachige Wikipedia, ist unser Blickwinkel eingeschränkt. Wenn wir die Diskussionen nur auf Englisch führen, können wir nur eine eingeschränkte Anzahl Stimmen hören. Diesmal haben wir die in der Vergangenheit ungehörten Stimmen herausgesucht und deren Bedürfnisse vorangestellt.
  1. Das Projekt würde äußerst umfangreich werden und mehr Planung und Einsatz erfordern als jedes andere Projekt, an dem unser Team in der Vergangenheit gearbeitet hatte.

Geleitet von diesen Voraussetzungen haben wir folgende Schritte unternommen, um den Prozess der Erneuerung der Desktop-Oberfläche der Wikipedia gerechter zu machen.

Gerechtes Wachstum

In der Produktabteilung der Wikimedia Foundation sprechen wir oft über „gerechtes Wachstum“. Mit diesem Ausdruck können viele der oben genannten Überlegungen erfasst werden. Doch ohne genaue Definition kann er zu einer zersplitterten Strategie führen. Daher haben wir viel Zeit darauf verwendet, eine Definition zu finden – indem wir Prozesse und Metriken entwickelt haben und uns Verpflichtungen auferlegt haben, um nicht abgelenkt zu werden. Zentral dabei steht immer die Idee, dass wir mit den Communitys aus aufstrebenden Märkten arbeiten statt für sie.

Das bedeutete, dass wir dieses Projekt anders als gewohnt angehen mussten. Üblicherweise gehen wir bei der Entwicklung neuer Funktionen so vor, dass wir sie einer kleinen Gruppe User:innen zur Verfügung stellen, meist als Betafunktionen, sodass Interessierte sie einfach für sich aktivieren und uns danach Feedback geben konnten. Auch wenn diese Vorgehensweise einseitig sein kann (technikaffine Personen werden eher Betafunktionen aktivieren), war sie in der Vergangenheit sehr erfolgreich im schnellen Sammeln von Feedback.

Diesmal wollten wir die neuen Funktionen aber einem breiteren Publikum zeigen, nicht nur angemeldeten User:inne:n. Daher hatten wir die Idee, die Funktionen in einigen Projekten für alle freizuschalten. Damit könnten wir verlässlichere Daten von allen User:inne:n des Projekts sammeln, sowohl von Leser:inne:n als auch von Autor:inn:en. Wir könnten Feedback von einem größeren Publikum erhalten und den Prozess beschleunigen. Wir schlugen dieses Vorgehen einigen Communitys vor, die möglicherweise interessiert sein könnten, und diese stimmten zu! Anhand einer Liste dieser Partnercommunitys konnten wir mit der Zeit ein enges Verhältnis und effiziente Feedbackprozesse aufbauen, womit wir sicherstellten, dass wir die Communitys hören und uns an ihre Bedürfnisse anpassen. 

Bei diesem Vorgehen war es essentiell, die geeigneten Projekte auszuwählen und anzusprechen. Wir wollten Communitys versammeln, die verschiedene Perspektiven und geographische Hintergründe mitbrachten. Wir haben uns auf einige wenige Faktoren konzentriert:

  • Größe: Wir wollten mit großen Projekten arbeiten, in Sprachen, die auf mehreren Kontinenten gesprochen werden, aber auch mit kleineren Projekten, die bisher Schwierigkeiten hatten, sich Gehör zu verschaffen. Das imperialistische Erbe wirkt in vielen Ländern noch nach und Sprachen wie Englisch, Französisch oder Spanisch sind in vielen Ländern Amtssprache. Beispielsweise tragen viele Autor:inn:en aus afrikanischen Ländern entweder zur englischsprachigen oder zur französischsprachigen Wikipedia bei und nur ein kleiner Anteil arbeitet in Projekten in einer lokalen Sprache. Wir wussten, dass wir mit Menschen aus beiden Communitys ins Gespräch kommen mussten, um alle Bedürfnisse und Voraussetzungen zu überblicken.
  • Wir wollten sowohl von links nach rechts als auch von rechts nach links geschriebene Sprachen vertreten haben. Das haben wir aus früheren Fehlern gelernt. Es ist entscheidend, unsere Änderungen in beiden Szenarien zu testen, sodass sie auch in beiden Fällen Sinn ergeben.
  • Es sollten verschiedene Schriftsysteme vertreten sein; je mehr, desto besser! Das schließt an den vorhergehenden Punkt an – die Auswirkungen der Änderungen sollten von Anfang an auch in verschiedenen Schriften getestet werden können.
  • Wir wissen dass Wikipedia groß und wichtig ist, aber die Schwesterprojekte sollten deshalb nicht vergessen werden. Spezielle Anwendungsfälle in speziellen Projekten sollten von Anfang an in die Neuentwicklungen miteinbezogen werden, sodass das (Wikipedia-)Design nicht im Nachhinein noch einmal angepasst werden muss.

Momentan umfassen unsere Pilotprojekte: baskische Wikipedia, bengalische Wikipedia, französischsprachige Wikipedia, französischsprachiges Wiktionary, deutschsprachige Wikivoyage, hebräische Wikipedia, koreanische Wikipedia, persische Wikipedia, portugiesischsprachige Wikipedia, portugiesischsprachige Wikiversity, serbische Wikipedia, türkische Wikipedia, venezianische Wikipedia, Wikimedia Incubator.

Tests in verschiedenen Communitys

Während unsere Pilotprojekte sicherstellten, dass die neuen Funktionen einem breiten Publikum gezeigt werden konnten, waren wir uns bewusst, dass wir noch detaillierteres Feedback von Leser:inne:n und Autor:inn:en brauchten. Da das Projekt sich in erster Linie an die Leser:innen richtet, haben wir dort angesetzt. Wir wollten herausfinden, was an der aktuellen Oberfläche verwirrend und schwer verständlich ist und verbessert werden könnte. Davon ausgehend haben wir erste Untersuchungen gestartet.

Aufgrund eingeschränkter Mittel mussten wir unser Zielpublikum weiter einschränken. Dabei sind wir wieder ähnlichen Auswahlkriterien wie oben gefolgt – wir wollten in aufstrebenden Märkten testen, mit vielfältigen Sprachen und Schriften und mit User:inne:n, die in verschiedenen Projekten tätig waren. Für die erste Runde mussten wir uns auf einen Markt konzentrieren.

Wir haben in Indien begonnen und dort das Unternehmen Hureo damit beauftragt, uns mit dem Anwerben von User:inne:n zu helfen. Wir verfolgten dabei ein zweiteiliges Ziel: 1) Testen von Leser:inne:n, die häufig Sprachen wechseln, und 2) Testen von Leser:inne:n, die nur in ihrer lokalen Sprache lesen. Wir wollten außerdem neuere Leser:innen miteinbeziehen und uns nicht nur auf die Gruppe der Leserschaft konzentrieren, die Wikipedia bereits kannte und häufig benutzte. Die Tests waren erfolgreich und bestätigten viele unserer Vermutungen über Mängel in unserer Oberfläche – Menschen verstanden die Navigation nicht, hatten Schwierigkeiten dabei, die Sprache zu wechseln, und fanden die Oberfläche insgesamt altmodisch und damit potenziell weniger zuverlässig. Doch die Tests zeigten uns auch Probleme und Vorzüge unserer aktuellen Oberfläche, an die wir bislang nicht gedacht hatten. So wurden Diskussionsseiten als mögliche Orte für allgemeine Diskussionen betrachtet. Außerdem wechselten User:innen, die sich mit unserer Navigation nicht zurechtfanden, üblicherweise nicht zu anderen Websites, sondern suchten schlicht die Inhalte unserer Projekte über Suchmaschinen wie Google, sodass ihnen die verwirrenden Teile unserer Oberfläche erspart blieben. Diese Erkenntnisse waren zentral für die Entwicklung der neuen Oberfläche und hätten ohne derartige Tests nicht gewonnen werden können.

Im Lauf der Zeit, wobei unser Projekt immer umfangreicher wurde, konnten wir derartige Tests fortsetzen und ausweiten, um auch andere Länder miteinzubeziehen. Neben Indien haben wir bislang Tests in Ghana, Argentinien und Indonesien durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Tests sind entscheidend für die Entwicklungen und oft überraschend. Häufig zeigen sich aber auch sehr ähnliche Ergebnisse. So fielen die Reaktionen auf die Prototypen für das neue Inhaltsverzeichnis in Ghana, Argentinien und Indonesien fast identisch aus.

Eine neue Informationsstrategie für das Projekt

Ein großer Teil der Dokumentation des Projekts steht auf MediaWiki.org zur Verfügung. In der Vergangenheit hätten dort auch die meisten Diskussionen zum Projekt stattgefunden, neben vereinzelten Beiträgen auf den zentralen Diskussionsseiten der einzelnen Projekte. Durch diese Herangehensweise wurde allerdings bisweilen die Reichweite eingeschränkt – sowohl mit Blick auf die Sprachen als auch auf die Erfahrung der beteiligten User:innen. Wir erreichten eher alteingesessene Communitymitglieder als neue aktive Autor:inn:en, und die eingebrachten Perspektiven gaben oft eher Einzelmeinungen als Positionen von Gruppen und Partnerorganisationen, die unsere Bewegung stark machen, wieder.

Zwar hielten wir grundsätzlich an dieser traditionellen Herangehensweise fest, aber wir brauchten zusätzlich neue Kanäle, um Menschen die Möglichkeit zu geben, Kontakt aufzunehmen, Fragen zu stellen und Feedback zu geben. Wir initiierten eine Reihe von Office Hours, die zunächst nur auf Englisch gehalten wurden, im weiteren Verlauf aber dank Simultanübersetzung auch mehrsprachig angeboten werden konnten. Da die generelle Veröffentlichung der neuen Funktionen näher kommt, werden auch gezielt Office Hours in bestimmten Sprachen wie Spanisch, Arabisch oder Russisch angeboten. Wir haben auch außerhalb der Projekte nach Gruppen interessierter Communitymitglieder gesucht und uns mit ihnen über Messenger und soziale Medien ausgetauscht.

Rücksicht auf Barrierefreiheit

Barrierefreiheit war ein weiterer Grundsatz unserer Herangehensweise. Dabei wollten wir unsere Funktionen noch stärker als 2010 barrierefrei gestalten. In der Vergangenheit waren viele der Änderungen im Sinne der Barrierefreiheit erst im Nachhinein umgesetzt worden, diesmal wurde Barrierefreiheit hingegen bereits bei der Planung jeder einzelnen Funktion berücksichtigt. Dadurch konnte sichergestellt werden, dass die Standards für Barrierefreiheit konsequent umgesetzt wurden und es in der Testphase weniger Überraschungen geben würde.

Wir haben uns auch auf Änderungen konzentriert, die notwendig waren, um die Website insgesamt besser zugänglich zu machen, indem etwa die Kontraste der Linkfarben oder die Schriftgröße angepasst wurden, um Menschen mit visuellen Einschränkungen zu helfen.

In der Schlussphase des Projekts arbeiten wir auch mit der American Foundation for the Blind zusammen, um die Barrierefreiheit des gesamten neuen Skins zu testen.

Fazit

Wir glauben, dass wir große Schritte in Richtung einer inklusiven Entwicklung sowohl in unserem Prozess als auch in unseren Entscheidungen für bestimmte Änderungen unternommen haben. Allerdings können wir nicht behaupten, dass wir eine perfekte Lösung gefunden haben. Dieser Prozess entwickelt sich ständig weiter und wir hoffen, dass die von uns vorgenommenen Neuerungen im Sinne von mehr Gerechtigkeit einen wertvollen Beitrag liefern konnten und auch in unseren zukünftigen Produktentwicklungen Anwendung finden werden.

Wir hoffen auch, dass diese Strategien umfassender werden, wenn wir mehr über unser Publikum und seine Besonderheiten lernen, sodass Wikipedia schließlich wirklich alle ansprechen kann.

Hier gibt es mehr Informationen zur Erneuerung der Desktop-Oberfläche der Wikipedia.