Wiki-Interview mit einem Holocaust-Überlebenden in Chile

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Am 4. März 2025 wurde Rudi Haymann, ein Holocaust-Überlebender, der seit 1948 in Chile lebt, von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, das Verdienstzeichen der Bundesrepublik Deutschland, ausgezeichnet.

Im Jahr 2024 hatte ich die Möglichkeit, ihn im Rahmen meiner Forschungs- und Freiwilligenarbeit zur Sammlung von Informationen und zur Förderung des freien Wissens über Minderheiten in meinem Heimatland, Chile, persönlich im Jüdischen Archiv in Santiago zu interviewen. Dieses Archiv wurde im Jahr 2022 aufgrund der umfangreichen Sammlung an Materialien über das jüdische Volk in Chile als nationales historisches Denkmal anerkannt. An einem kühlen Juninachmittag traf ich um 16 Uhr pünktlich mit Rudi zusammen, um über seine Lebensgeschichte zu sprechen. Im Vorfeld hatte ich bereits umfassende Recherchen online durchgeführt und mehrere Interviews angesehen, um die relevanten Informationen für die Erstellung des Wikipedia-Artikels über seine Biografie zu sammeln. Dadurch habe ich auch Zeit gespart und musste ihm nicht die Fragen stellen, die ihm ständig gestellt werden. Diese ehrenamtliche Arbeit ist Teil der Initiative Wiki für Minderheiten (WfMin).

Im Alter von 103 Jahren präsentierte sich Rudi als ein charmanter und dynamischer Mann, der offen für Gespräche über vielfältige Lebensaspekte war. Ich stellte mich ihm auf Deutsch als ehrenamtlicher Mitarbeiter der Wikimedia-Bewegung vor, was für ihn eine neue Erfahrung darstellte:

  • „Was ist Wikipedia?“ er hat mich gefragt.
  • „Es handelt sich um eine kostenlose virtuelle Enzyklopädie, die versucht, alles freie Wissen der Welt zusammenzuführen. Ich bin davon überzeugt, dass Ihre Biografie die nötigen Voraussetzungen dafür mitbringt“. Ich habe es ihm gesagt.
  • „Das ist wirklich wunderbar“, antwortete er.

Unser Interview wurde in einem zweisprachigen Rahmen sowohl auf Deutsch als auch auf Spanisch geführt, wobei der Wechsel zwischen den beiden Sprachen ganz natürlich und mühelos verlief. Es handelte sich um ein fließendes Gespräch von etwa einer Stunde, in dessen Verlauf wir über seine Kindheit in Berlin-Moabit diskutieren konnten. Ich erwähnte, dass ein Teil meiner Familie ebenfalls aus Berlin stammt und Ende des 19. Jahrhunderts, also lange vor seiner Zeit, ausgewandert ist. Er berichtete mir über seine Reise von Berlin nach Triest und anschließend zum Hafen von Haifa im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina. Der Kontext des Zweiten Weltkriegs und die herausfordernden Bedingungen, unter denen er als verfolgte religiöse Minderheit in Deutschland lebte, waren äußerst komplex und schwierig. Er schilderte, wie schmerzhaft es für ihn war, sich von seiner Familie trennen zu müssen, ohne Gewissheit, ob eine Wiedervereinigung jemals stattfinden würde. Danach erläuterte er seine unterschiedlichen Aufgaben und Pflichten im Kibbuz, in dem er sich niederließ, einschließlich seiner Tätigkeiten in der Milchwirtschaft sowie seiner Rolle als Soldat zur Selbstverteidigung der Stadt. Er erzählte mir sehr anschaulich Einzelheiten über einige seiner späteren Reisen als verdeckter britischer Geheimdienstagent nach Nordafrika, Griechenland und Italien. Einer der aufregendsten Momente für ihn war, als er in Rom ankam und die Große Synagoge der Stadt befreite. Später sprachen wir über ihre Ankunft in Chile und ihr glückliches Wiedersehen mit ihrer Familie in Südamerika, wo sie Zuflucht gefunden hatten. Wir führten auch ein Gespräch über seine Karriere als Innenarchitekt und die zahlreichen Projekte, die er an verschiedenen Standorten in Chile realisiert hat. Sein Ansatz ist stark vom Bauhaus-Stil geprägt, den er während seiner Zeit in Europa kennengelernt hat. Dadurch hat er sich als einer der Pioniere des modernen und avantgardistischen Innenarchitekturstils in Chile etabliert.

Nach dem Interview trafen wir uns mit anderen Anwesenden im Archiv, die meisten von ihnen ebenfalls Juden, wo wir einige Fotos aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Deutschland sowie jiddische Texte und Dokumente zu verschiedenen Themen besichtigten. Er übersetzte den Anwesenden laut vom Jiddischen ins Spanische. Trotz seines fortgeschrittenen Alters engagiert sich Rudi weiterhin mindestens einmal pro Woche ehrenamtlich im Archiv. Dabei übernimmt er Übersetzungen ins Deutsche und Jiddische und unterstützt bei anderen Aufgaben, die seinen Fähigkeiten entsprechen. Außerdem analysiert er dort Objekte und Dekorationselemente sowie zugehöriges audiovisuelles Material.

Es ist von großer Bedeutung, dass wir als Freiwillige und Autoren von Artikeln Zeugnisse sammeln, die als bedeutende Beiträge zur Dokumentation unserer Gesellschaft gelten. Die unterschiedlichen Minderheiten eines Landes, einschließlich religiöser, ethnischer, sprachlicher und migrantischer Gemeinschaften, sind häufig im öffentlichen Leben von Marginalisierung und Unsichtbarkeit betroffen. Daher ist es essentiell, ihre Aktivitäten zu dokumentieren, um ein umfassenderes Verständnis ihrer Identität und Erfahrungen zu ermöglichen. Dies trägt dazu bei, die Perspektiven des „Anderen“ besser nachzuvollziehen. Dort kommt unserer Rolle ein besonderer Stellenwert zu und wir können auch hier einen wichtigen Beitrag zu einem friedlichen Zusammenleben, zu Toleranz und Respekt leisten.

Zum Schluss noch eine Anekdote: Eine seiner Töchter ist Architektin und im Kulturbereich aktiv. Wir trafen uns einige Monate nach dem Interview zufällig auf einer Kunstausstellung. Aufgeregt erzählte sie mir, dass Rudi seiner Familie von unserem Interview erzählt habe und dass er seinen Enkeln jedes Mal, wenn sie im Internet etwas nachschlagen, sage: „Schau mal, was bei Wikipedia steht.“

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