Wikiwitches – den Opfern der Hexenverfolgung die Existenz zurückgeben

Wikiwitches – ein Projekt zum Thema Hexenverfolgung in der Schweiz – hat am 4. November 2023 seine Première mit einem Atelier in der Bibliothèque Genève. Der Begriff Hexe ruft eine Vielzahl von Emotionen und Assoziationen hervor. Die Palette reicht von der banalisierten Maskerade für Halloween über religiöse Verblendung, Inquisition, Macht, Gewalt und Folter bis hin zu Horror- und Gruselgeschichten. Auf alle Fälle bleibt vieles zu diesem Thema im Dunkeln. Der Verein Les sans pagEs hat deshalb das Projekt Wikiwitches lanciert. In Zusammenarbeit mit Wikimedia CH soll es in der ganzen Schweiz umgesetzt werden. Ziel ist es, die Geschichte der Hexen in der Schweiz auf der weltweit grössten Online-Enzyklopädie ans Licht zu bringen und für alle zugänglich zu machen. Die Geschäftsführerin von Les sans pagEs, Natacha Rault, beantwortet im Interview mit Wikimedia CH einige Fragen.

Hallo Natacha, wie bist du auf die Idee zu diesem Projekt gekommen?

Natacha Rault: Das Wikiwitch-Projekt ist in erster Linie ein Projekt zur Kartographie der Opfer von Hexenverfolgungen auf Wikidata. Zurück zur Frage: Ich wurde einmal der Hexenjagd beschuldigt, als ich mich über die Behandlung beschwerte, die ich als Frau erfahren habe. (Es handelte sich um die Kritik an meinen Wikipedia-Aktionen, die man jedoch nie direkt mit mir direkt besprechen wollte). Um meine Wut in konstruktive Bahnen zu lenken, begann ich, die Frauen zu kartografieren, die Opfer von Hexenjagden wurden. Das war ein Ventil, und es fühlte sich gut an.
Ich hatte das Gefühl, diesen Frauen wieder eine Seele und eine Existenz zu geben, die auf brutalstmögliche Weise verleugnet worden waren, indem man ihnen unter oftmals falschen Anschuldigungen nach dem Leben trachtete.
Wie überrascht war ich, als ich herausfand, dass dies im Jahr 1428 im Wallis in der Schweiz seinen  Anfang nahm. Das Thema hat mich absolut fasziniert.

Was reizt dich persönlich an diesem Thema?

Natacha Rault: Ich beschäftige mich damit, Feminizide und ihre Geschichte, zu der auch die Hexenverfolgung gehört, historisch, sachlich und rational zu dokumentieren, da dies meiner Meinung nach einiges über die heutige Stellung der Frau in unserer Gesellschaft erklärt, ihre Unsichtbarkeit und den Mangel an wirtschaftlichen Möglichkeiten, unter denen die Frauen leiden.

Es lassen sich unzählige Fakten und Geschichten über Hexen berichten. Wo möchtest du den Schwerpunkt bei diesem Thema legen?

Natacha Rault: Wir zählen nicht die Geschichten oder das, was die Populärkultur vermittelt. In diesem Projekt erfassen und versuchen wir, Fälle von Menschen, die Opfer von Hexenverfolgungen wurden, zu geolokalisieren. Es sind hauptsächlich Fakten, die wir aus den Prozessakten und den daraus resultierenden hochoffiziellen Verurteilungen sowie den Eigentumsübertragungen (Konfiszierungen) in den Notariatsregistern entnehmen. Diese dokumentieren die Folter, der sie ausgesetzt waren, die Art des Geständnisses, die Verurteilung und die Vollstreckung des Urteils. In der Schweiz wurden die Frauen wie in Deutschland oft lebendig verbrannt, während sie in England gehängt und in Frankreich geköpft wurden, bevor sie verbrannt wurden.
Für die bekanntesten Fälle, wie Michée Chaudron, Pierre de Torrenté und Anna Goldin oder La Catillon in Freiburg, kann man dann einen Wikipedia-Eintrag machen. Das erfordert, dass man zusätzlich zu den Einträgen in den Gesetz-Registern auch Sekundärquellen findet.
Auf Wikipedia haben wir eine Reihe von Biografien thematische Artikel:

Dieser letzte Artikel ist ein Entwurf und muss noch verfeinert werden. Es gibt noch einiges zu diesem Thema auf Wikipedia zu tun!
Unser Ziel ist es, eine Übersicht für die Schweiz zu erstellen und dann eine Methodik zu entwickeln, um das Projekt auf die ganze Welt auszuweiten. Wir denken zum Beispiel, dass eine App für Smartphones, die es den Leuten erlaubt, die Daten selbst einzugeben, eine gute Idee wäre. Dies würde ihnen ermöglichen, sich zu beteiligen, auch wenn sie nicht wissen, wie sie zu Wikidata oder Wikipedia beitragen können.

Wo sind die Quellen für neue Artikel? Was sind die Herausforderungen der Hexenforschung in der Schweiz?

Natacha Rault: Die Primärquellen, die für Wikidata verwendet werden, befinden sich in den Prozessregistern, da die Hexenjagd zu den ersten rechtlichen Verfahren der registrierten Inquisitionsprozesse gehört (davor war die Justiz summarisch und oft nicht dokumentiert). Oft sind diese Register in Latein oder Altfranzösisch und müssen erst übersetzt werden, bevor sie ihr substantielles Gehalt preisgeben! Wir sind daher auf die Ergebnisse und Fortschritte der akademischen Forschung sowie auf die Digitalisierung und Transkription von Rechtsregistern angewiesen, die sich in der Schweiz häufig in den kantonalen Archiven befinden.

Auch Männer wurden Opfer der Hexenverfolgung. Gibt es in Ihrem Projekt einen Platz für sie?

Natacha Rault: Unsere Forschungen beziehen sich auf Personen, die Opfer von Hexenverfolgungen wurden, wobei die meisten von ihnen Frauen sind. Wir haben zum Beispiel an der Biografie von Pierre de Torrenté gearbeitet, der der Konkupiszenz von Walter Supersaxo zum Opfer fiel, dem Fürstbischof von Sitten, der auch heute noch als Held des Wallis gilt. Es gab auch viele LGBT-Frauen, die Opfer dieser Verfolgung wurden, aber ihre Geschichte wurde unsichtbar gemacht, da ihre Sexualität als Frauen nie in Betracht gezogen und die eigene verleugnet wurde.

Gibt es heute noch Hexen?

Natacha Rault: Die Hexen, die man verfolgt hat, waren keine Hexen. Seien wir ehrlich: Hexen, echte Hexen wie mich, gibt es nur in der Fantasy-Kultur!
Dennoch gibt es im zeitgenössischen Feminismus eine politische Vereinnahmung des Themas der Hexe als Archetyp eines Feminizids. Ausserdem verstehen viele Feministinnen nicht, warum es so viele Denkmäler für die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs gibt, aber warum es nur einen Ort in Norwegen gibt, an dem ein Denkmal (das Steinelset-Memorial von Louise Bourgeois) mit den Namen aller Frauen errichtet wurde, die in Hexenprozessen gefoltert und ermordet wurden.
In einigen Ländern kann man immer noch in einem rechtlichen Verfahren als Hexe angeklagt werden. In anderen Ländern werden alte oder unerwünschte Frauen, Albinos oder Kinder mit Behinderungen einfach als Hexen «entsorgt».

Herzlichen Dank für diese spannenden Einblicke in das neue Projekt, Natacha.

Mehr dazu

  • Wikiwitches Projektseite
  • Illustration: Von Johann Jakob Wick – Dietegen Guggenbühl: Hexen. In: Sandoz-Bulletin 24 (1971), S. 27-40, hier S. 38, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=596920
  • Les sansPages

Foto:  Ruby Mizrahi / Wikimedia Foundation, Natacha Rault, Bildschnitt von Wikimedia CH , CC BY-SA 3.0