Dirk Franke ist ein langjähriger Wikipedia-Autor, der auf der Wikimania-Konferenz in Hongkong seinen Blick auf die Zukunft der Wikipedia im Jahr 2022 präsentiert hat. Die geschriebene Variante dieses Essays erschien zuerst auf seiner Website. Mehr Informationen zur Veranstaltung und zum Text finden sich hier auf Englisch und hier auf Deutsch.
Manchmal, wenn ich mich mit anderen Wikipedianern unterhalte, versuche ich alt und weise zu klingen. Und ich rede über die Zeiten, als es noch gar keine Wikipedianer gab, und alle Datenbanken liefen auf einem einzigen Server, der von Hamstern angetrieben wurde. Um in der weiten Öden des IRCs jemand zu treffen, musste man sich Tage vorher verabreden. Alle Regeln und Bearbeitungshinweise der Wikipedia, ausgedruckt auf A4, waren weniger als zehn Seiten lang.
Das waren die Zeiten, in denen ich Menschen erzählte „ich bin bei Wikipedia“. Und die Antwort war „Ah, ja, ne, is klar, wasauchimmer“ Ich: „Und jeder kann mitmachen“ – „Ah, ja, ne, is klar, wasauchimmer“. Ich: „Eines Tages wird es eine freie Onlineenzyklopädie sein“– „Ah, ja, ne, is klar, wasauchimmer“ Bis heute vermute ich innerlich immer, dass Menschen so auf Wikipedia reagieren, und bin jedesmal sehr überrascht, wenn e sanders kommt.
So viel hat sich seit 2003 geändert. Beim Schreiben des Blogposts sitze ich in Hongkong auf der Wikimania. Die Weltpresse interessiert sich dafür, was Jimbo in einer Rede sagt. Und vor allem: Wikipedia ist tatsächlich praktisch und taugt als Nachschlagewerk. Wenn ich mich auf fremden Kontinenten mit wildfremden Leuten über mein Hobby unterhalte, wissen diese Menschen im Normalfall wovon ich rede. Und viele, viele Menschen interessieren sich stark dafür, was in Wikipedia steht: Menschen, die niemals auch nur einen Edit gemacht haben oder machen werden. Tatsächlich, die Erfolgsgeschichte der Wikipedia fasziniert mich jeden Tag wieder.
Aber natürlich wäre es anmaßend, davon auszugehen, dass Wikipedia an genau dieser Stelle aufhört, sich weiterzuentwickeln. Es wäre anmaßend davon auszugehen, dass Wikipedia sich nicht mehr verändern wird.
Was wird im Jahr, sagen wir mal 2022, passieren? Warum versuchen wir nicht einfach mal einen Blick in die Glaskugel?
Die gute Nachricht: im Jahr 2022 existiert Wikipedia noch. Die schlechte Nachricht: Niemand weiß davon
Die gute Nachricht: auch jetzt im Jahr 2022 existiert die Wikipedia. Die schlechte Nachricht: Niemand weiß davon. Durch neue semantische Anwendungen, Wikidata, Mobile Apps und allerlei andere personalisierte Oberflächen hat es fast niemand mehr nötig auf die Website zu gehen. Da wo der riesige unstrukturiert-bleiwüstige Text steht, in dem sich an komischen Stellen seltsame Bilder befinden. Dort, wo die Auswahl der Bilder immer noch danach erfolgt, welcher Hobbyfotograf am durchsetzungsfähigsten ist.
Durch eine Menge an Apps und Anwendungen kommt die Information maßgeschneidert und so aufbereitet, wie sie die Menschen gerade wünschen. Mal wird sie vorgelesen, mal als Video aufbereitet oder auch in kurzen Textschnipseln auf diverse Displays serviert. So viele schicke und schöne Oberflächen auf denen man die Information von Wikipedia genießen kann, ohne in die langweilige und überladene Enzyklopädie zu müssen.
Viele Menschen tragen mittlerweile auf viele verschiedene Arten bei. Große Teile der Inhalte kommen mittlerweile durch Partnerorganisationen in das Wiki-Archiv. Bots plündern die Archive Universitäten, Museen und anderen Institutionen und laden deren Materialien auf die Wikimedia-Server.
Vielfältige Menschen (darunter viele Frauen), verarbeiten diese Informationen weiter, korrigieren sie, versehen sie mit Schlagworten, schätzen sie ein, bewerten sie positiv oder negativ. Programme und Bots werten diese Interaktionen aus und aggregieren die Resultate- Daraus kuratieren Programme diejenigen Informationsschnipsel für verschiedene Leser.
Um Wikipedia herum befindet sich ein großes Archiv an Material, das durch verschiedenen Methoden ausgewertet und aufbereitet wird. Wikipedia, Aggregation durch das Schreiben von Text, ist nur eine dieser Methoden. Es ist allerdings die Methode, die bei Studenten und Bildungsbürgern immer noch sehr beliebt ist.
Um die tatsächliche Wikipedia bearbeiten zu dürfen, bedarf es mittlerweile des Master-Zugangs. Der Zugang ist der einzige Zugriff auf dem tatsächlich etwas kaputt gemacht werden kann, und beispielsweise Inhalte komplett geändert oder neu strukturiert werden können. Deshalb wurde der Zugang ist in den letzten Jahrzehnten natürlich immer weiter eingeschränkt. Das Recht, Wikipedia zu bearbeiten, muss man sich durch fleißiges Helfertum in der weiten Wikversiumssphäre erst verdienen. Nur einige Freaks, Studenten höherer Semester, ehemalige Studenten höherer Semester und andernweitig bildungsversesene Menschen besitzen Können und Wollen, um sich bis dahin vorzuarbeiten. Alle anderen sind glücklich, wenn sie einfach nur Inhalte beisteuern können.
Nichts sehen
Erinnert Ihr Euch an die Zeit, als man tatsächlich eine echte Website it großen Textmengen lesen musste? Die Website war irgendwie weiß und sah schon nach wenigen Jahren so aus, als hätte sie sich aus der Frühzeit des Internets in die Moderne gerettet. Es hatte einige Bilder fragwürdiger Qualität, die durch die eigentümliche Wikisoftware ohne jedes Layout quer über die Texte verteilt waren. Und es gab Text: es gab viel Text. Manchmal war dieser Text gut geschrieben, oft war er umständlich, unelegant und verlor sich in Details. Auf der Website stand alles, es war nur manchmal schwer, es zu finden. Je länger die Zeit fortschritt, desto schwerer wurde es. Der Anspruch, eine Enzyklopädie für alle zu sein, ging verloren, da viele nicht mehr in der Lage waren, sich durch die Textberge zu kämpfen.
Das ist vorbei. Heute geben einem Telefon, Auto, Haus, Social Network, Zeitung und Fußmatte die Informationen, die man gerade benötigt. Der Kühlschrank bestellt zwar immer noch keine Milch, kann dafür aber mittlerweile dank Wikiquote die schönsten Zitate über Milch vierstimmig singen. Wobei: eigentlich geben einem Türmatte etc. nur die Informationen, die man vielleicht benötigen könnte. Auch nach vielen Jahren der Forschung ist das Targeting plump und trifft nicht immer. Aber hey, wenn man auf diese seltsame Website geht, ist das Targeting und das Zusammenehen von gewünschten und gelieferten jetzt auch nicht der Hit.
In den Jahren 2014 bis 2018 versuchten die Wikimedia Foundation und einige der größeren Chapter mit erheblichem Einsatz von Mitteln solche Apps und die dazu notwenige Software zu programmieren. Aber sie waren viel zu langsam. Verrückterweise versuchten sie sogar, die Community einzubinden – in einem Prozess der ebenso undemokratisch wie langsam und ineffektiv war. Die Versuche aus dem Wikiversum waren alle viel zu sehr damit beschäftigt, das bestehende zu bewahren, um wirklich nach vorne blicken zu können. Die Einbindung einer länger bestehenden Community verunmöglichte jede echte Veränderung. So kamen die echten Veränderungen durch Player, die weniger Hemmungen hatten.
Als Wikidata abhob, als Wolfram Alpha in der Lage war, Wikipedia und Wikidata-Informationen mit netten schönen Bildern und lustigen Filmen zu verbinden, als Google keine Hemmungen mehr zeigte, Wikipedia nach Inhalte zu durchforsten und diese neu zusammenzusetzen.. – das waren die Player, die die neuen Apps programmierten und auf deren Geräten Wikipedia-Inhalte nun zu den Usern kamen.
Da im Jahr 2022 fast niemand mehr die Website besucht, haben natürlich auch die Spenden nachgelassen. Natürlich bezahlen Wolfram Alpha, Google und Wikiweibo alle Rechnungen und ein bis zwei nette Kongresse im Jahr – aber natürlich bezahlen sie besonders gerne für Anwendungen, die ihnen mehr und besseren Zugang zu den Informationen gewähren.
So jetzt im Jahr 2022 fühlt sich Wikipedia für die moisten Menshcen wie jede andere Website an. Die meisten Informationsapps suchen sich ihre Daten aus verschiedenen Quellen zusammen und kombinieren diese ohne Hinweis auf den Urheber. „Wikipedia lesen“ ist ein fortgeschrittener Kurs an Universitäten. Nur wirklich neugierige Menschen kämpfen sich durch all die Oberflächen bis zur eigentlichen Quelle.
Die Website existiert immer noch. Da die Community sich in den letzten Jahren in Richtung der Neugierigen und Kundigen wandte, sind die Texte mittlerweile besser geschrieben als im Jahr 2013. Seit 2018 funktioniert sogar die Suche. Aber trotzdem: Wikipedia, die Website, ist nru für Menschen, die wirklich wirklich hinter die Kulissen sehen wollen. Das ist keine Mehrheit (oder auch nur eine erhebliche Minderheit) der Menschheit.
Nichts schreiben
Im Jahr 2015 gab die Wikimedia Foundation endgültig alle Versuche auf, auf die Community einzuwirken und überließ sie einfach sich selbst. Offizielle Policy war es nun, die Community nach Möglichkeit zu ignorieren und an Projekten im weiteren Wikiversum zu arbeiten: keine Versuche mehr, Neulinge anzuwerben, keine Versuche die Community vielfältiger zu machen, keine Machtkämpfe mehr. Lieber schuf sie neue und enthusiastischere Communities in der Peripherie des Wikiversums.
Wiki Loves Monuments zeigte einen Weg, wie man es schaffen konnte, und dank des Visual Editors und seiner Infrastruktur, konnte die Foundation ihn auch gehen. Die Foundation erkannte den Irrweg, der darin lag, Newbies den steilen und mühsamen Weg zuzumuten, sich in eine etablierte Community einzuarbeiten. Einfacher war es, den Menschen etwas zu geben, mit dem sie einfach Inhalte schaffen konnten, ohne sich um das ganze Drumherum kümmern zu müssen. Einfach einfach; keine Streit, kein Aufwand, kein Unfreundlichkeit, keine komplizierten Meta-Regeln.
Die ersten Apps für “eingeschränktes Bearbeiten ohne das Risiko etwas kaputt zu machen” waren entwickelt worden, und ermöglichten ganz neue Erfolge im Outreach. Die allererste war natürlich eine Wiki-Loves-Monuments-App, bei der man nur noch eine Kamera mit GPS benötigte, und die App alles andere – einordnen, beschreiben, auf [Commons hochladen, in den Artikel einbinden – von selber erledigte. Was für Denkmale funktionierte, funktionierte dann natürlich in kurzer Zeit auf für Kunst, Straßenzüge, geographische Objekte, Schulen, Museen, Autos etc.
Um die kleinen Fehler zu verbessern, die diese App noch machte, gab es eine weitere App, mit der Menschen die Fehler korrigieren konnten – nur einmal kurz beim Busfahren oder aus dem selbstfahrenden Auto die Zuordnungungen überprüfen, Daumen nach oben oder Daumen nach unten, und schon war der Menschheit ein klein bisschen geholfen. In Fortgeschrittenen Varianten konnten die User wählen, ob sie ein Bilder mochten oder nicht, ob es eine gute Illustration war, Inhalte per Teilnahe an einem Multiple-Choice-Quiz verbessern die Fragen für das Quiz wurden automatisch generiert und die Antworten eingearbeitet.
Plötzlich konnten wieder große Teile der Bevölkerung an Wikipedia teilhaben, und Wikipedia – in der neuen Form – wurde ein beliebtes Hobby. Es war möglich in einer ruckelnden Bahn beizutragen, in der es nur begrenzte Bandbreite gab. Das gesamte benötigte Vorwissen bestand daraus, ein Bild zu mögen oder auch nicht zu mögen. Man konnte im Gehen editieren, im Laufen und auch schon fast im Schlafen.
Schwierig war es allerdings weiterhin, diese Informationsmassen in enzyklopädische Inhalte zu übersetzen – einfache Arbeiten konnten Bots erledigen, in schwierigeren Fällen war die alte aktive Community gefragt, und bei Aufgaben, die sonst niemand machen wollte, kamen bezahlte Kuratoren ins Spiel-
Die alte Community mit ihren anstrengenden Verhaltensweisen ist mittlerweile gut hinter mehreren Schichten einfacher, schöner und gut zu bedienender Anwendungen versteckt. Diese sind motivierend, intuitiv zu bedienen und bei Problemen findet sich immer eine hilfreiche Mitarbeitern, die helfen und beraten kann.
In der alten Community selbst gab es immer noch Konflikte und Rivalitäten. Aber die meisten Kämpfe waren schon vor Jahren ausgekämpft worden, und wurden jetzt eher aus Tradition am Leben gehalten, den aus Enthusiasmus. Viele der diskussionsfreudigen Metawikipedianer hatten das Projekt verlassen und sich auf fruchtbarerem Boden niedergelassen. Der harte kern der Enzyklopädisten hatte weniger Interesse am Streit,
Hochladen
Zur selben Zeit wie Wikimedia das Schichten-Modell zum Verstecken der Community entwickelte, hob die Kooperation mit GLAMS (Gallerien, Libraries/Bücherein, Museen und Archiven), „neuen Glams“ (Unternehmen) und fast-Glams (alles andere) ab. Bezahltes Hochladen auf Wikicommons oder Wikisource wurde in vielen Archiven und Kommunikationsstellen fester Bestandteil der Arbeitsabläufe. So viele neue Inhalte konnten so gewonnen werden. Die wurden dann erstmal mit Bots notverarztet, bevor User mit lustigen Webspielen das Feintuning erledigen konnten.
Fast alle großen Institutionen haben im Jahr 2022 ihre offizielle Präsenz im einem der Wikimedia-Projekte. Die Integration geht mittlerweile so reibungslos, dass die Wikiprojekte ebenso probemlos Informationen der Institutionen einbinden können, wie diese Wiki-Inhalte in ihre Websiten und Ausstellungen integrieren, ohne dass es bemerkt wird. Die Glams (neuen Glams, fast-Glams gaben ihre Inhalte und bekamen dafür das gesamte Wikiversum zurück.
Die ausgewählten Wenigen
Wie also geht es Wikipedia? Ihr geht es gut. In Wikipedia zu editieren, ist angenehm. Wikipedianer zu sein, ist eine Ehre. Man muss mittlerweile hart arbeiten, um diesen Status zu erlangen. Die Leute, die sich noch um Wikipedia sorgen sind meist älter und gebildet und haben ein umfangreiches Allgemeinwissen. Natürlich macht es weniger Spaß: nicht mehr ganz so viel Brillanz und Gedankenflüge wie ehedem, weniger Ideen, dafür mehr Routine, Alltag und Detailarbeiten. Aber die Routine ist entspannter, viele Standards sind etabliert, ruhige effektive Arbeit in den Tiefen einer gigantischen Wissensmaschine. Als Wikipedianer lernt man jeden Tag vieles Neue. Es ist gleichzeitig faszinierend und langweilig.
Wikipedia, die Website, hat immer noch eine enorme Bedeutung. Aber nur noch die wenigsten Wissen, warum eigentlich.
Dirk Franke/Southpark
Deutscher Wikipedia-Autor
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