Der Artikel über Direkte Demokratie in Deutschland ist der beste Artikel in der deutschen Wikipedia im März 2014. Nach einer langen und intensiven Diskussion wählte die Jury des deutschen Wikipedia-Schreibwettbewerbs über den Artikel über den Mediavisten Percy Ernst Schramm und den Artikel über Block 11, ein Gebäude im KZ Auschwitz.
Der Wikipedia-interne Schreibwettbewerb ist ein zentrales Ereignis im Kalender der Wikipedianerinnen und Wikipedianer. Zweimal im Jahr richten sich die Augen der Community auf diesen Wettbewerb. Die Themenauswahl ist dabei frei und die Themen der bisherigen Gewinnerartikel deckten ein breites Spektrum ab, vom de:Braunbär über die de:karolingische Buchmalerei bis hin zum französischen Fußballverein de:Stade Reims.
Dabei ist der Schreibwettbewerb ein Mikrokosmos der Wikipedia, in dem es um gute Artikel und enzyklopädisches Schreiben, aber auch um Geschichten, soziale Dynamiken und inhaltliche Grundsatzfragen der Wikipedia geht.
10 Jahre Triumphe und Tränen, Artikel und Ansichten
Der Schreibwettbewerb entstand in Anlehnung an den Schrijfwedstrijd der niederländischen Wikipedia. Benutzer Achim Raschka legte am 5. September 2004 die erste Seite innerhalb der Wikipedia an, die zu einem Schreibwettbewerb aufrief. Insgesamt kandidierten bei diesem ersten Schreibwettbewerb 44 Artikel. Die damals fünfköpfige Jury wählte den Artikel über das de:Kloster Lehnin von Benutzer Lienhard Schulz zum Sieger.
Der Schreibwettbewerb traf einen Nerv innerhalb der Community und sorgte dort für hohe Aufmerksamkeit. In einigen Jahren kandidierten jeweils über 120 Artikel, von denen ein größerer Anteil nach dem Wettbewerb als “exzellent” oder “lesenswert” ausgezeichnet wurde, welche damit zu den besten 0,3% aller Wikipedia-Artikel gehörte. Nie werden in der Wikipedia so viele Artikel mit dem lesenswert- oder exzellent-Status versehen, wie in den Monaten nach Ende des Schreibwettbewerbs.
Die Auswahl der Sieger wurde dabei noch nie von der Gemeinschaft der Wikipedia-Aktiven getroffen, sondern jedes Jahr ist es eine Jury aus Wikipedianerinnen und Wikipedianern, die diese Auswahl trifft. Im Jahre 2006, beim fünften Schreibwettbewerb, gelang es das erste mal, diese Jury zu einem Livetreffen an einem Ort zusammenzubringen. Die Übernahme der anfallenden Reisekosten zu diesem Jurytreffen war auch eine der allerersten direkten Communityförderungen, die der damals noch junge und kleine Verein Wikimedia Deutschland übernahm.
Sieger und Platzierte
Nachdem die Siegerliste im Jahr 2004 mit einem Artikel über ein klassisches Thema der Heimatkunde begann – der Artikel über das Kloster Lehnin beschreibt eine Klosteranlage nahe bei Berlin – deckten die Gewinnerartikel in den Folgejahren ein breites Themenspektrum ab.
Sieger waren Artikel aus den Naturwissenschaften, wie der Artikel über die die de:Virushülle oder über die de:L-Gulonolactonoxidase, aber auch Themen aus der Geschichte wie der Artikel über die de:Tragödie von Nasino, Artikel aus der Kunst wie zum Beispiel der Artikel über de:Karolingische Buchmalerei oder der Artikel über den Film “de:Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens”. Manchmal gewannen auch Artikel über ganz ungewöhnliche Themen, wie der Text über das de:Theatrophon, ein Gerät, mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts Live-Konzerte über das Telefonnetz übertragen wurden.
Insbesondere die Mediziner konzentrierten sich auf den Schreibwettbewerb. Unter den Top-3-Artikeln befinden sich eine erstaunliche Anzahl von Artikeln über Krankheiten von Mensch und Tier, über Viren, Bakterien und Unpässlichkeiten aller Art. Betrachtet man andere Artikel, die sich in den Top-Platzierungen befanden, kommen auch noch Themen wie das de:Rastern von Linien, einige Artikel über verschiedene Olympische Spiele, zahlreiche historische und kunstgeschichtliche Themen und eine große Anzahl von Artikeln über einzelne Tierarten hinzu.
Kontroversen und Community
Die Motivation und Aufmerksamkeit der Wikipedianerinnen und Wikipedianern war gleich am Beginn des Schreibwettbewerbs so hoch, dass emsige Wikipedianer den Wettbewerb sofort als Plattform für eigene Absichten nutzten: gleich den zweiten Wettbewerb 2005 nutzte ein Wikipedianer, um eine elegante Fälschung in einem Artikel unterzubringen, und dort ein nachbearbeitetes Bild einzuschmuggeln. Die Fälschung flog auf und löste umfangreiche Diskussionen zur Qualitätssicherung und -überprüfung in Artikeln aus.
Die Auswahl der Preisträger war dabei nicht immer ohne Kontroversen. Ein Siegerartikel aus dem Jahr 2006, ein Artikel über die aktuelle philosophische Strömung des Methodischen Kulturalismus, war besonders kontrovers; ob es sich bei diesem Text um einen Artikel bedeutender Tiefe, der sich tiefgründig mit aktuellen Strömungen zeitgenössischer Philosophie befasste, handelte, oder doch eher um einen verschwurbelten Text über ein unbedeutendes Randphänomen, war selbst innerhalb der Jury heftig umstritten.
Der Text war innerhalb der Jury sogar so umstritten, dass ein überstimmtes Jurymitglied wenige Tage nach Bekanntgabe des Ergebnisses einen Löschantrag auf den Gewinnerartikel stellte. Die Wikipedianer waren so in Aufregung ob dieses Siegers, dass sie 2006 einen Publikumspreis ins Leben riefen, der vor allem einen anderen Artikel auszeichnen sollte. Auch wenn die Juryentscheidungen seit 2006 meistens auf mehr Zustimmung stießen, so existiert der Publikumspreis bis heute – und bisher gelang mit dem Artikel über die Virushülle erst einem einzigen Beitrag der Sieg in beiden Kategorien. Seit 2010 existiert ein dritter Preis: der Preis für dasjenige Communitymitglied, das während des Schreibwettbewerbs am besten anderen Teilnehmern hilft.
Der Ablauf
Motto des Schreibwettbewerbs ist es, dass er “einzig und allein der Befriedigung des Spaßfaktors” dienen soll – zwar gibt es seit Anbeginn Preise für die siegreichen Artikel. Diese sind jedoch meist eher klein und symbolisch. Eigentlich nie stehen die Preise im Verhältnis zu der Zeit und der Mühe, die man aufwenden muss, um einen solchen Preis zu gewinnen.
Kurz vor dem Wettbewerb wählen die ehrenamtlichen Wikipedianerinnen und Wikipedianer aus ihrer Mitte Juroren, die in einer von vier Kategorien – exakte Wissenschaften, Kultur, Gesellschaftswissenschaften oder Geschichte – antreten. Nach der Wahl können Autorinnen und Autoren einen Monat lang Artikel in einer der Sektionen nominieren. Der Artikel muss dabei in dem Monat des Wettbewerbs in die Wikipedia eingestellt oder umfassend erweitert werden. Für den Wettbewerb zählt einzig und allein der Unterschied zwischen dem ersten Tag des Wettbewerbs und dem letzten Tag des Wettbewerbs.
Nach dem Monat treffen sich die Jurys – online und meist auch bei einem persönlichen Treffen – und bestimmen eine Siegerliste innerhalb einer Sektion, ebenso wie sie eine Gesamtsiegerliste bestimmen. Insbesondere im letzten Fall kommt es oft zu hitzigen Diskussion, da man fast wortwörtlich Linoleum mit Hip-Hop-Platten vergleichen und einen Sieger finden muss.
Die Preise werden zum größten Teil von anderen Communitymitgliedern gespendet und sind fast so vielfältig wie die Community selbst: Es gab schon Einladung zum Opernbesuche mit Erklärung und Absacker danach, selbstgeschossenes Wildbret, bulgarische Eiertragetaschen, Hamburger Hafenrundfahrten mit dem Fahrrad, handgeknüpfte Wikipedia-Lesezeichen, aber natürlich auch weniger Ausgefallenes wie etwa Bücher, lokale Spezialitäten, Gutscheine und anderes. Wie bei anderen Aktivitäten von Freiwilligen auch sind die Preise stets etwas unberechenbar, oft kreativ und oft unvermutet. Ein unlängst von der Wikimedia Foundation veröffentlichter vorläufiger Evaluationsreport, der den Erfolg von acht verschiedenen wiki-basierten “writing contests” inklusive des Schreibwettbewerbs untersuchte, merkt an, dass dessen “Ermutigung existierender Communitymitglieder, Preise zu spenden, … offenbar den Spaßfaktor für die gesamte Community erhöht.”
Die nächsten 10 Jahre
Insgesamt wurden bisher eine vierstellige Anzahl von Wikipedia-Artikeln für den Schreibwettbewerb nominiert, und mehrere Hundert waren bereits nach einem Monat gut genug für eine Platzierung. Der bisher größte Schreibwettbewerb fand 2006 statt, als 128 verschiedene Artikel gegeneinander antraten. In den folgenden Jahren war er etwas kleiner, was stets Diskussionen um den Untergang und die Neugestaltung des Schreibwettbewerbs auslöste. Geändert haben diese Diskussionen wenig, und der Wettbewerb funktioniert auch weiterhin einfach wie ehedem. Wie die Wikipedia auch: Der Schreibwettbewerb geht beständig vor sich hin. Etwas gesetzter als ehedem, mit etwas weniger Drama als noch vor 10 Jahren, aber kontinuierlich, beständig, zielgenau, und für alle Beteiligten auch noch mit ebensoviel Spaß wie 2004. Freuen wir uns auf die nächsten 10 Jahre.
Dirk Franke, Wikimedia Deutschland
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